Erkenntnisse
Jeder Mensch hat eine Speiseröhre, eine Trinkröhre und eine Luftröhre. Das habe ich bis vor drei Wochen geglaubt. Woher diese Idee kam - keine Ahnung. Hätte ich mir vorher selbst einmal die Frage gestellt "Wie sollen all diese Röhren in einem Menschenhals passen?", ich hätte begriffen, dass sich kompletter Unsinn in meinem Hirn gefestigt hat. Doch Menschen können Jahrzehnte lang mit einer komplett falschen Meinung über sich selbst und die Beschaffenheit der Welt herumzulaufen. Das gehört zum menschlichen Wesen. Und wenn nicht irgendwann irgendeiner sagt, dass drei Röhren eine zu viel sind, dann wandert der Irrtum mit ins Jenseits.
Den Anlass für meinen Irrglauben suche ich in meiner Kindheit. Vielleicht hat mir meine Mutter mal gesagt: "Wenn du dich beim Essen verschluckst, dann ist ein Stück Kartoffel (oder Erbsen, Brot, etc.) nicht in die Speiseröhre, sondern in die falsche Röhre gekommen." Und dann habe ich mir die Trinkröhre ausgedacht, von deren Fehlen ich erst erfahren habe, als ich meinen Mitbewohnern vor drei Wochen erzählen wollte, was in meinem Körper passierte, als ich mich kurz zuvor verschluckt hatte.
Seitdem ich in Dänemark bin, ist mir meine Nahrung immer sehr störungsfrei in den Magen gelangt. Der Irrtum, dem ich hier aufgesessen bin, betrifft meine Meinung, ein Studium im Ausland sei dazu da, Kontakt aufzunehmen zum einheimischen Volk. Die einzigen Dänen, die ich bis jetzt in Roskilde kennengelernt habe, sind meine Lehrer (na gut: und das Mädchen von der Uni-Zeitung und der Mentor eines spanischen Kommilitonen). Meine Nachbarn im Wohnheim sind Spanier, Kanadier und Franzosen - was prima ist -, und sie kochen und reden mit mir. Die Dänen, die hier wohnen, kenne ich nur aus Erzählung. Sie verkriechen sich in ihre Zimmer und kommen nur in den frühen Morgenstunden heraus, um ihre Wäsche in die Maschine zu geben und Post aus dem Kasten zu holen. Danach gehen sie weiter ihren Studien nach.
Der Monat Februar wird erweisen, ob Dänen derart fremdeln. Dann beginnen die Vorlesungen am Roskilde Universitetscenter. Nur zu gerne würde ich mein neu gelerntes Dänisch außerhalb des Sprachkurses unter ungeschützten Bedingungen ausprobieren. Wäre schon schön, wenn sich meine jetzt gefundene Erkenntnis, mein Dänemarkbesuch sei keineswegs dazu gedacht, mir Zugang zu dänischen Menschenherzen verschaffen, als Fehlschluss herausstellt.