Dienstag, Dezember 18, 2007

Willem (5)

[Teil 1|2|3|4]

"Wo ist dieser Opa Willem", wiederholte ich.
Angelo zeigte in Richtung Ortsgrenze.
"Bring mich zu ihm."
Wir trafen Willem neben einer bruchreifen Bushaltestelle. Er saß in seinem Trecker, kam mir unheimlich bekannt vor und spielte “Biscaya” auf der Mundharmonika. Der Dieselmotor knatterte und produzierte den gleichen dreckigen Qualm, den ich schon beim Abschleppen meines BMWs ins Gesicht bekommen hatte.

"Opa, der Fremde will Dich sehen", sagte Angelo.
Willem nickte, nahm das Funkgerätmikro herunter und ließ die Mundharmonika in seine Hemdtasche gleiten.
"Hm?", fragte er mich.
"Was soll das mit dem Radio?", fragte ich.
Willem stopfte seine Pfeife und sah mich nur an.

"Ach so", sagte Angelo. "So geht das natürlich nicht. Opa redet nur noch übers Radio."
Er setzte mir die Kopfhörer auf und schaltete sein Radio an. Jetzt hörte ich den Motor in Stereo knattern. Willem stand wohl auch auf Wäscheschleuderimitationen.
"Also, was soll das?", fragte ich.
"Ja, lieber Hörer. Warum also mache ich Radio", hörte ich Willem sagen. "Ist es um die Menschen aufzuklären, um sie zu unterhalten?", fragte er. "Ist es für meine Nachbarn? Für meinen Enkel? Für mich selbst? - Sicher ist es von allem etwas. Aber ganz besonders ist es für Angelos Großmutter, für meine Alma", sagte er. Er spielte eine halbe Minute "Biscaya", dann redete er weiter.

"Almas Tod hatte mich damals sprachlos gemacht", sagte er. "Dann fand ich ihr Versteck auf dem Dachboden. Dort lagen zwei Geschenkpakete. Almas Name stand auf dem einen, meiner auf dem anderen. Sie hatte zwei alte Funkgeräte gekauft, damit wir miteinander reden können, auch wenn ich gerade auf dem Acker arbeite." Schweigen. "Ich hatte ja gehört, dass man mit UKW bis in den Weltraum kommt und sogar bis zu den Sternen, von denen meine liebe Alma jetzt einer ist."
Ich wollte ihn nicht länger monologisieren lassen. "Und was ist dann passiert?", rief ich.

"Und dann erfüllte ich uns unseren Traum und sprach mit meiner Alma, wenn ich auf dem Acker war. Denn irgendwo im Universum sitzt meine Alma und hört mir zu."
Mir wurde schlecht. Der Idiot. Von wegen funken bis in den Weltraum. Der arme Willem hatte UKW mit Kurzwelle verwechselt.

[Schluss]

Montag, Dezember 10, 2007

Willem (4)

[Teil 1|2|3]

Dort saß ein Rollstuhlfahrer vor einer Haustür. Er hatte die Augen geschlossen und döste. Auf seinem Schoß hatte er einen alten sowjetischen Radioempfänger, aus dem es knatterte. Ich tippte ihn an. Er räusperte sich.
“Schönes Knattern, nicht wahr?”, sagte er. “Erinnert mich immer an die Wäscheschleuder bei Frau Wendelmann in der Waschküche. Ist immer so schön, der Waschmaschine zuzugucken und dabei Malzkaffee zu schlürfen”, sagte er. “Wenn ich das Knattern höre, weiß ich, dass ich nicht alleine bin auf dieser Welt. Auch wenn mein Rollstuhl einen Platten hat.”
“Wo ist der Junge?”, sagte ich.
“Ja”, sagte er.
“Wo ist er?”
“Wer?”
“Der kleine Junge?”
“Meinen Sie Angelo?”
“Ich weiß nicht, wie er heißt.”
“Was wollen Sie von kleinen Jungs?”
“Er hat mich angegriffen?”
“Sie sind ein junger, starker Mann, und werden von einem kleinen Kind angegriffen. Das ist Kokolores!”, sagte der Alte.
Etwas traf mich am Ohr. Ein kleiner Stein fiel herunter. Ich dreht mich herum und sah Angelo im Gebüsch verschwinden. Diesmal war ich schneller. Ich riss ihm die Steinschleuder aus der Hand.
“Was soll das?”, fragte ich ihn, während ich den zappelnden Jungen am Arm festhielt.
“Loslassen”, sagte er. “Opa Willem hat das erzählt, dass er als kleiner Junge immer Stolperfallen gegen den Russeneinmarsch gebaut hat. Ich wollte das nur mal ausprobieren”, sagte er.
“Und das mit der Steinschleuder?”
“Auch gegen Russen”, sagte Angelo.
“Wo ist dieser Opa Willem”, fragte ich. Ich wollte wissen, was das für ein Kerl sein muss, der kleine Kinder zu Guerilla-Terroristen erzieht. Ich witterte schon eine Geschichte für meine Zeitung: “Terrorcamp im Osten. Radio-Gehirnwäscher macht Kinder zu Schläfern.”

[Fortsetzung kommt]

Sonntag, Dezember 09, 2007

Willem (3)

[Fortsetzung von hier und dort]

Frau Wendelmann saß 50 Meter weiter in ihrer Küche und schälte Kartoffeln. Radio Willem gab Bauernregeln zum Besten, als ich in ihre Wohnung eintrat: “Wenn im August viele Goldkäfer laufen, braucht der Wirt den Wein nicht zu taufen”, sagte er. “Im Juli will der Bauer lieber schwitzen als untätig hinterm Ofen sitzen.” Und der Klassiker: “Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, ändert sich das Wetter, kräht er auf dem Hühnerhaus, hält das Wetter die Woche aus.” Er erzählte etwas von einem Hochdruckgebiet über dem Ostatlantik und Cumulus-Wolken.

“Mein Lieblingsspruch ist der mit dem Hahn”, sagte Frau Wendelmann. “Radio Willem kennt gut 50 Sprüche. Ich versuche jeden Tag zu raten, welchen Spruch er diesmal bringt. Sein Wetterbericht ist auf jeden Fall besser als der aus der Zeitung. Aber die ist ja auch immer vom Vortag.” Ich bat um ein Zimmer. Sie führte mich zu einer Matratze, die unten im Keller lag. “Was Besseres werden Sie hier im Ort nicht finden”, versprach sie mir. Ich glaubte ihr. Die anderen Häuser sahen noch schäbiger aus als ihres. Ich fragte nach einer Telefonzelle. Den Termin im Labor konnte ich ja an den Tag nicht mehr schaffen. Ich musste da anrufen und bei meinem Chef. “Geradeaus und dann hinten links bei der alten Scheune”, sagte sie.

Draußen schien ich der einzige Mensch auf der Straße zu sein. “Wahrscheinlich sitzen die alle in ihren Häusern und hören Radio”, dachte ich. Und dann flog ich auf die Fresse. Jemand hatte Stolperdraht über den löchrige Fahrbahn gespannt. Hinter einem Steinhaufen am Straßenrand hörte ich ein Kichern. “Na warte”, sagte ich und sprang auf. Ich packte nach dem Jungen. Er war schneller und lief in einen Hinterhof.

[Fortsetzung kommt]

Donnerstag, Dezember 06, 2007

Willem (2)

[Fortsetzung von da]

Ein Trecker näherte sich mir lautstark in einer Qualmwolke. Ich stieg aus dem Auto und winkte. “Auto – Graben – reingeschleudert”, sagte ich dem Mann im Führerhäuschen. Er strich sich über den Bart. “Hm”, machte er und holte eine Kette unter seinem Sitz hervor. Fünf Minuten später hatte er mein Auto herausgezogen, und er stopfte schweigsam seine Pfeife. “Danke”, sagte ich. “Hm”, machte er. “Wo geht es denn hier in den nächsten Ort”, fragte ich. Er zeigte rechts die Straße hoch.

Ich setzte mich ins Auto, startete den Motor und hörte den scheppernden Auspuff, der nun über die Straße schliff. Meinen Termin konnte ich vergessen. Ich musste in eine Werkstatt. Im Radio sprach eine raue Männerstimme eine Art Liebeserklärung: “Liebe Alma. Vor mir liegen in all ihrer Herrlichkeit die vollen Rapsfelder. Sie leuchten wie die Sonne. Heute ist der Tag der Ernte. Der laue Wind legt sich über mein Gesicht. Ich wünschte, ich hätte Dich an meiner Seite. Dich, meinen Stern.”
Kitschig, total das Dorfradio. Wahrscheinlich haben die auch eine Grußsendung, in der Alteneimbewohner ihre Zimmernachbarn grüßen und Ehemänner am 50. Hochzeitstag ins Telefon rotzen, sie würden ihre Alte noch lieben wie am ersten Tag auf dem Schützenfest.

Als ich nach einer Viertelstunde im Kriechtempo meinen Auspuff durch den Ortseingang zog, sah ich rechts ein Hinweisschild für eine Meisterwerkstatt. Ich parkte den BMW und fand den Meister mit einem Kaffee in der Hand. Im Radio schloss der Sprecher gerade seine Erklärung ab: “Alma. Jetzt zieht ein Wäldchen an mir vorüber. Das satte Grün macht mir Appetit. Wie schön wäre es, einen frischen Salat mit Dir zu essen. Aber das geht ja nicht mehr.”

“Ich stehe auf die Landschaftsbeschreibungen von dem Kerl”, sagte der Mechaniker. “Ich bin ja den ganzen Tag in der Werkstatt. Da sieht man kaum Tageslicht.”
“Ich bin fremd hier”, sagte ich. “Was ist das für ein Radiosender?”.
“Och, das ist Radio Willem. Ein Mann, ein Radio sag ich immer. Ist auch der einzige Sender, den wir hier haben. Wir sind ja ziemlich von der Außenwelt abgeschnitten. Gibt ja kaum Radio hier, und meinen Telefonanschluss sollte ich schon letztes Jahr bekommen.”

Ich wechselte das Thema: “Mein Auto ist kaputt.” Ich zeigte auf den BMW. “Auspuff”, erklärte ich.
“Och, das dauert aber zwei, drei Tage. Ich muss meinen Neffen in die Stadt schicken, damit er die Teile besorgt. Kann ich erst morgen machen.”
Ich resignierte: “Gibt es hier irgendwo ein Zimmer zu mieten?”
“Gehen Sie zu Frau Wendelmann.”

[Fortsetzung kommt]

Mittwoch, Dezember 05, 2007

Willem (1)

Ich komme gerade von der Hertz-87,9-Lesenacht. Da saß ich unter anderem im Wechsel mit Rouven Ridder und Sven Stickling am Lesetisch. Hier der erste Teil meiner Geschichte.

Es ist fünf Jahre her. Ich arbeitete in der Redaktion einer bundesweit operierenden Tageszeitung. Mein Chefredakteur hatte gerade gesteckt bekommen, dass ein Labor in Bitterfeld heimlich ein Retortenbaby hergestellt hatte. Nicht nur die Befruchtung lief im Reagenzglas ab, sondern die ganze Schwangerschaft kam ohne Mutter aus. “Damit könnte der Osten eine ganze Armee von Klon-Kriegern produzieren”, sagte mein Chef. “Das ist der Knaller, du musst dahin und die Geschichte machen.” Er warf mir den Schlüssel vom alten Firmen-BMW zu. Mit dem Oldtimer war ich erst letzte Woche zu einem getarnten Weltraumbahnhof der Marsbewohner in Greifswald gefahren. Davor hatte er mich nach Cloppenburg auf eine Farm mit fliegenden Schweinen geschickt. “Das ist ein Durchbruch in der Ernährungsforschung – ganz leichtes Fleisch”, sagte er.

Ich rief bei dem Labor an und machte einen Termin ab. “Ich möchte mir gerne ihre äh... Samenbank näher anschauen”, log ich. Ich musste ja verdeckt arbeiten, und vielleicht konnte ich später in der Kühlabteilung Fotos mit Reagenzgläsern machen, deren Inhalt sich als angehender Klonkrieger der Zukunft verkaufen ließe.

Nach zwei Stunden Fahrt stand ich im Stau. 27 Kilometer sagten sie im Verkehrsfunk. Ich nahm die nächste Ausfahrt und eine Stunde später sauste ich mit dem BMW durch eine menschleere Gegend, war zum zigten Mal durch eine düstere Waldschneise gefahren und kam nun an weiten Maisfeldern vorbei. Keine Menschenseele. Ich schaute auf mein Handy – Funkloch. Die Straße wurde holprig. Ich hatte lang kein Straßenschild mehr gesehen, und ich überlegte, ob ich zurückfahren sollte. Vielleicht sollte ich nochmal in den Verkehrsfunk reinhören. Doch im Radio rauschte es nur noch. Ich drehte am Sendesuchrädchen, als plötzlich mein Handywecker ansprang, um mich an meinen Termin zu erinnern. Zwei Sekunden später hing der BMW im Graben und ich fluchte: Es war eine schlechte Idee, Maschinengewehr-Geräusche als Handyton zu benutzen. Erst neulich stand ich deswegen vor einer Gruppe heulender Flüchtlingskinder. Jetzt hatte ich mich selbst erschrocken.

Das Auto ließ sich nicht mehr aus dem Graben manövrieren. Aber zumindest ging das Radio wieder. Ein bekloppter Musikredakteur war offenbar auf die Idee gekommen, eine Mundharmonika-Version von dem James-Last-Hit “Biscaya” zu spielen. Und jetzt lief der Refrain in einer Endlosschleife. Das musste ein mieser Lokalsender sein. Ständig knackte es in den Lautsprechern und es klang so, als stünde für die Stromversorgung ein Dieselmotor im Studio.

Ich war am Ende der Welt. Aber ich war nicht allein.

[Fortsetzung kommt]