Sonntag, Oktober 07, 2007

Rätselspaß mit Egon Krenz

Tagesschau, 9. November 1989: "Eine Stunde hatte sich heute Egon Krenz von der ZK-Sitzung entfernt, um mit Ministerpräsident Johannes Rau zusammenzutreffen." Der Staatsratsvorsitzende der DDR und der nordrheinwestfälische Ministerpräsident laufen durchs Bild.
Aha! Sie wollen den Tag, der sich als denkwürdig abzuzeichnen beginnt, offenbar für eine Buchpräsentation nutzen: Krenz trägt einen dicken blauen Schmöker im Arm. Um den Spannungsgrad ins nicht mehr Messbare zu erhöhen, drückt er seinen Daumen auf das erste Drittel des einwortigen Buchtitels. "tzeichen" bleibt über, und alle Tagesschauzuschauer rätseln.

"Schriftzeichen", ruft die Mama aus.
"Nee, Mutter", sagt Vater. "Das ist zu lang. So einen dicken Daumen hat der Krenz nicht."
"Was'n mit Sportabtzeichen?", sagt Sohn Kalle, sechs Jahre. Er spielt mit seiner Zwei-Farb-Taschenlampe, die er zur Einschulung bekommen hat. Gerade strahlt sein Gesicht rot.
"Zu religiös", sagt Vater. "Obwohl, vielleicht nimmt die DDR ja die Montagsdemonstranten aus den Kirchen ein bisschen ernster und fährt einen Annäherungskurs. Nur, der Daumen ..."
"Du redest ja schon wie ein Politiker, Vater", sagt Mama. "Fehlt nur noch, dass du jetzt von Appeasement-Politik anfängst."
"Das wäre zu weit gegriffen", sagt Vater. "Ich halte das eher für einen Harmonisierungskurs."
"Das Buch, das Buch!", ruft Kalle.
Großmutter kommt in Bewegung. Kalle hatte ihr gerade noch wie zum Abschied über den Kopf gestreichelt, weil ihr Atem flau geworden war. Jetzt raschelte ihr Strickzeug zu Boden, und sie sagte mit knorriger Stimme: "Zeitzeichen."
"Oma, du weißt doch gar nicht, worum es geht. Du hast doch gerade noch geschlafen, Oma!", sagt Papa.
Großmutter rüttelt ihren Kopf. "Ich hatte einen Wahrtraum. In 18 Jahren wird ein Buch mit dem Titel Zeitzeichen erscheinen, das Spionageabwehr und Aufklärung zum Thema hat."
Mama meldet sich zu Wort. "Komm Mama", sagt sie zu ihrer Mutter, "leg dich man besser wieder schlafen. Was soll denn der Herr Krenz mit Spionen zu tun haben?!"
Großmutter grummelt.
"Satzzeichen", platzt es aus Kalle heraus.
"Da fehlt ein T vor dem Z", sagt Vater. "Und meinst du, der Staatsratsvorsitzende der DDR will uns was über Grammatik beibringen?"
"Vielleicht hat Kalle ja doch Recht, und Herr Krenz hat sich in der ZK-Konferenz gelangweilt", sagt Mama. "Er hat Kreuzworträtsel gelöst und dafür brauchte er das Buch, oder so."
Kalle schaltet von rot auf grün. Dann leuchtet seine Taschenlampe weiß, und der Strahl fährt seinem Papa über die Augen.
"Hör doch mal auf mit der verdamm...", sagt Papa. Er hält inne. "Natürlich. Ich weiß es. Das Buch heißt Lichtzeichen."
"Warum?", fragt Kalle.
"Ist doch klar. Die DDR will jetzt die bestimmt die Grenzabfertigung mit modernen Ampeln regeln. Und jetzt hat sich Egon Krenz bei dem Rau Tipps geholt, wie die Leute in Nordrhein-Westfalen die Grenzabfertigung mit den Holländern machen. Und dann haben sie ein Buch geschrieben."
"So ein dickes Buch und so schnell?", sagt Mama.
"Wahrscheinlich ist das eine riesige Bauanleitung. Die haben die irgendwo abgeschrieben. Einfach abkopiert. Naja, und dann hat das Zentralkommitee natürlich auch ein paar rechtliche Paragraphen da mit aufgenommen", sagt Vater.

Während sich in Berlin erste DDR-Bürger aufmachen zur Bornholmer Brücke, springt Kalle auf, lässt aus seiner Taschenlampe schnell pausenlos rot, grün und weiß flackern und jubelt: "Vati hat das Rätsel rausgekriegt." Der Sohn tanzt, die Mutter klatscht. Großmutter liegt breit im Sessel in der Stubenecke. "Alles Banausen", murmelt sie. "Zeit", sie schluckt, "Zeichen." Und Großmutter atmet allmählich aus.
"So, Söhnchen", ruft Vater von hinten. "Ab ins Bett. Und Taschenlampe her."

Bildquelle: Tagesschau vom 9.11.1989/ Youtube

Zur Sache:
An der Bornholmer Straße
Egon Krenz heute gut gelaunt
Ex-Politbüro-Mitglied Günter Schabowski redet über den 9. November und DDR-Bürger, die sich am Abend aufgeregt an die Türen klopfen, um zur Grenze zu fahren
Das Auswärtige Amt über den 9. November
DDR-Protestmärsche und Grenzöffnung bei der Tagesschau
Der 10. November 1989 aus Sicht von Götz Förster und Anett Wundrak
DDR-Innenminister Friedrich Dickel liest viel vor

1 Kommentar:

Serenity hat gesagt…

Hey *anstubs* lebst du noch?