Der 24-Stunden-Report (4): 5 Uhr
Wenn mal jemand auf die Idee kommt, mich zu entführen, um Geld von meinem Staat zu erpressen, so möchte ich ihm folgende Foltermethode ans Herz legen. Ich habe sie selbst erprobt und empfand sie als höchst wirkungsvoll. Ich hätte alles gemacht, um meinem Leiden ein Ende zu setzen: einen Fastenmonat in Sachen Computer eingelegt, Untergebenen Freundlichkeit entgegengebracht, und ja, ich hätte Geld an wohltätige Organisationen gespendet. Nur: Da waren keine Folterer, mit denen ich verhandeln konnte. Ich war völlig allein.
Nie könnte ich für militärische Sonderabteilungen wie die GSG 9 oder den paralilitärischen Freundeskreis RAF arbeiten. Nicht wegen intellektueller Unzurechnungsfähigkeit oder mangelnder Kondition. Nein. Denn meine absolute Schwachstelle ist: Ich kriege schnell kalte Füße.
Potenzielle Gegner haben deshalb derzeit eine prima Chance, mich unter Druck zu setzen. Kalte Füße verpassen, das geht nämlich am besten mit Schnee, derzeit zu finden in Kopenhagen. Dafür müssen sie mich auf einer spanischen Party irgendwo im Randbezirk von Kopenhagen (Ballerup) aussetzen mit dem Auftrag, den Weg nach Hause zu finden. Ein Bus fährt um 2 Uhr nachts nicht von da, also zu Fuß durch den Schneematsch. Ich muss daher sehr lange geradeaus einer Hauptstraße folgen, unter einer Überführung durch, dann links in den Jagtvej.
Am Abend darauf sollte mir ein italienischer Kommilitone erzählen, dass er, der jahrelang in Neapel, der nicht ganz ungefährlichen und kaum mafiafreien Stadt, gelebt habe, in derselben Nacht in derselben Stadt wie ich von zwei Kriminellen angehalten worden sei, sein ganzes Geld rauszugeben.Ich fühle mich komplett sicher in den gut beleuchteten Kopenhagener Straßen und folge weiter intuitiv der inneren Landkarte. Dann komme ich um 3 Uhr am Bahnhof Nørreport an, und dann kommt kein Zug. Zumindest nicht sofort, sondern erst um 3.55 Uhr. Ich überlege hin und her, mache mich auf zum Hauptbahnhof Kopenhagen und ende an der Station "Kongens Nytorf". Von da bringt mich eine Metro wieder nach Nørreport, wo ich einsichtig warte. Um 3.57 Uhr dann der Zug zum Hauptbahnhof, an dem ich feststelle, dass der 4.07-Uhr-Zug heim nach Roskilde annulliert worden ist - wegen Eis und Schnee.
Ich selber stelle das nur vermittelt fest, weil ich die dänische Bahndurchsage nicht verstehe und einen jungen Burschen fragen muss. Er verrät mir, dass um 5 Uhr der nächste Zug geht, will von meinem Erdnüssen aber keine einzige annehmen. Ich fange an, mich durch tiefe Konzentration auf das Reklameschild mit Wechselanzeigenmechanismus in Hypnose zu versetzen, um mir so den Eindruck von Wärme zu imagonieren.
Als ich eine halbe Stunde später in der Bahnhalle staunend vor einer Glasvitrine mit einer Modelleisenbahn stehe, die nicht im Entferntesten irgendeine der Bahnstrecken Dänemarks repräsentiert (zumal deutsche Reklame auf die Modellautos in der Miniaturlandschaft gedruckt war), spreche ich den Burschen vom Bahnsteig an, der zum zweiten Mal an mir vorbeiläuft, um sich warmzuhalten. Er versteht mich nicht. Dann nimmt er die Ohrstöpsel heraus. "Yes, it's pretty cold inside here and I'm trying to keep me warm", entgegnet er, der in Kopenhagen Maschinenbau belegt, allerdings eine besondere Ausprägung der "Engineering Studies": Er besucht auch Kurse zu Anatomie und anderen Medizinthemen, um nachher auf Expertenniveau mit den Ärzten plaudern zu können, damit sie ihm sagen, welches Untersuchungs- oder Therapiegerät er ihnen bauen soll. Ich studiere Pädagogik, sage ich ihm, und dann sitzen wir im Zug im gleichen Abteil wie Francesca und Laura, die gerade aus der Diskothek Vega kommen und keine nassen Schuhe haben. Es ist 5.45 Uhr, als ich mir in meinem 13-Quadratmeter-Wohnheimzimmer die Wasser triefenden Socken von den Füße streife. Endlich wieder in Freiheit.