Freitag, Mai 18, 2007

Krabbelndes (1)

Schwarzbild. Weißer Titel blendet sich ein: Begegnungen. Missklingende Klaviertöne schrillen aus dem Fernsehlautsprecher. Weiche Blende lässt einen Mann erscheinen, der sich seine Hornbrille auf die Nase rückt. Er hüstelt. Seine Brille fällt ihm von der Nase. Er bückt sich.

Unvermittelt eine Stimme aus dem Off: Jurek Heersky. Sie sind ein ausgemachter Tausendsassa. In jungen Jahren haben Sie sich mit einer Pizzeria selbstständig gemacht, Sie haben als Unterwassermonteur in der Karibik gearbeitet, jüngst haben Sie Ihre Nouvelle "Faktisch ist die Serviette auf meinem Teller keine Speise" veröffentlicht. Und nun sitzen Sie in dieser Sendung.
Heersky (schnellt hoch, presst sich die Brille zurück ins Gesicht): Da wäre ich nicht so sicher.
Off-Stimme: Sie sitzen nicht hier?
Heersky: Ich habe mich niemals richtig selbstständig gefühlt mit meiner Pizzeria. War vollkommen abhängig von der Gunst meiner Kundschaft. Oft kam keiner, obwohl ich eine erbauliche Produktpalette hatte. Meine Pizzen waren immer auch Kunst. Das haben die meisten nicht verstanden. Haben die Pizzen einfach verschlungen, ohne sich vorher nur ein wenig mit ihrem Wesen zu beschäftigen. Spax und Unterlegscheiben, die ich als Reminiszenz an die zunehmende Verschraubtheit der modernen Welt in den Teig eingearbeitet hatte, fanden ihren Weg in die Mägen des Pöbels.
Off-Stimme: Und nun ein Buch.
Heersky: Ich habe niemals ein Buch in Pizzateig geknetet. Ist einfach zu auffällig. Besser sind kurze Senkkopfschrauben, und die Unterlegscheiben sind unter Olivenringen leicht zu verbergen.
Off-Stimme (offenbar ein Interviewer, Ton kommt links aus dem Fernsehlautsprecher): Ihre Nouvelle handelt von einem Mann, der sich vom Diskurs "Nahrung" freimacht.
Heersky: Was ist Nahrung, was ist eine Speise? Seit Menschengedenken, vermutlich noch länger, stopft der Homo sapiens sapiens Dinge in sich hinein, die er als essbar erachtet. Früchte nennt er sie, Fisch, Obst, Fleisch. Iss das, dann bist du einer von uns, ein Mensch, so lautet die Botschaft. Wer anderes speist oder gar nicht speist, wird geächtet, darf nicht mehr Mensch sein. Ich sage nun, wer will einem Feuerschlucker, wer will einem, der Scherben isst, wer will Mohandas Karamchand Gandhi, der seiner Speiseröhe lange nichts Organisches anvertraute, absprechen, Mensch zu sein. Ich nicht.
Off-Stimme: Was gab es bei Ihnen heute zum Frühstück?
Heersky: Erdbeeren, Lachs und Humuspaste. Dazu Mohnbrötchen.
Off-Stimme: Wird nicht hier eine gewisse Inkongruenz offenbar zwischen Sagen und Tun, zwischen Ihrem persönlichen Anspruch und Ihrem Gefangensein in der Wirklichkeit?
Heersky: Und Pudding. Ich hatte auch Pudding. Zugegeben: Die Vanillesauce sagte mir wenig zu. Ihre Konsistenz war so, ja: flüssig, hatte keinen Halt in dem, was wir Realität nennen und was mir heute morgen der Pudding war.
Off-Stimme: Ihr Elternhaus... Ihre Eltern betrieben überaus erfolgreich ein Pharmazieunternehmen. Hat Sie das beeinflusst?
Heersky: Ich habe nie verstanden, dass Tablettenkonsum niemals offiziell als Form der Nahrungsaufnahme akzeptiert wurde. Meine Eltern hatten erhebliche Schwierigkeiten bei der Akquise neuer Ertragssektoren, weil Kantinen, insbesondere die staatlichen, dem Catering-Service unseres Familienunternehmens ablehnend gegenüber standen. Die Idee meiner Eltern war, die Tabletten wöchentlich zu liefern, in kleinen Plastikchachteln, mit kleinen Fächern. Eins für jeden Tag. Und pro Tag eine andere Speisenfolge. Mal nur grüne Pillen, mal eine bunte Mischung. Mal was gegen Schnupfen, dann was für Osteoporose.
Off-Stimme: Das geschäftliche Wirken Ihres Vater und Ihrer Mutter hatte demzufolge starken Einfluss auf Ihr künstlerisches Schaffen.
Heersky: Nein. Ich habe nie Tabletten in den Teig geknetet. Die hätten sich ohnehin zu leicht aufgelöst und womöglich der Pizza eine unerträgliche Farbgebung besorgt. Ich bin Künstler, ich will die Kontrolle behalten.
Off-Stimme: Und doch schienen Sie jegliche Kontrolle verloren zu haben, als Sie im Sommer 1988 tausende von argentinischen Rindern mit Antibabypillen fütterten.
Heersky: Sie verzerren Tatsachen. Die Rinder kamen zu mir. Ich stand nur am Weidenrand und hatte zufällig Tabletten aus der Überproduktion meiner Eltern in der Hand.
Off-Stimme: ... aus der die Rinder gefressen haben. Sie hatten mehrere Tonnen Antibabypillen nach Argentinien eingeschmuggelt.
Heersky: Es ist nicht verboten, mit einem Boot nach Südamerika zu fahren.
Off-Stimme: Es handelte sich um einen Frachter mit 20.000 Bruttoregistertonnen.
Heersky: Das Ausflugsboot meiner Eltern. Ein Teil der nordeuropäischen Bohème und ich hatten uns aufgemacht, das Leben in der Fremde zu erkunden.

Off-Stimme: War es nicht vielmehr eine Reihe von DDR-Bürgern, denen Sie die Flucht in den Westen versprochen hatten?
Heersky: Liegt Argentinien etwa nicht im Westen?

[wird fortgesetzt]

Themen des zweiten Teils könnten etwa sein: Warum Heerskys Eltern trotz Scheidung noch gemeinsam tapezieren, welche Farbe der Frachter hatte und ob auch Zwiebeln auf der Pizza waren.

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