Kære Suttetræ (lieber Schnuckelbaum),
pass gut auf meinen herrlichen Schnuller auf, ich habe ihn sehr gemocht. Jetzt bin ich fast drei Jahre und ein großes Mädchen und zu alt, um noch den Nuckel zu benutzen. Pass darum also gut auf meinen Schnuller auf.
Liebe Grüße ...
Daumenlutschen verursacht schiefe Zähne, ebenso wie Schnullernuckeln. Das sagen Eltern, und Pädagogen führen an, dass zu langes Nuckeln auf psychische Probleme hinweisen. Meine Mutter hat mir eine übelschmeckende Tinktur auf den Daumennagel geschmiert (das Mittel soll auch gegen Nägelkauen helfen), die ich erst einmal weglutschen musste, bevor ich weiter komfortabel nuckeln konnte. Vier war ich da vielleicht und wollte genauso wenig auf den Daumen im Mund verzichten wie auf den Schlafsack, den meine Mutter mir aus alter Bettwäsche genäht hatte. Aus dem Schlafsack wuchs ich heraus, und auch das Daumenlutschen passte mir irgendwann nicht mehr.
Meine Eltern blieben harmlos, andere Eltern setzen auf psychologische Erziehungstricks. "Du bist doch viel zu groß fürs Nuckeln. Die anderen Kinder in der Nachbarschaft lachen ja schon. Und außerdem: Du willst doch unbedingt selber Auto fahren, oder? Das darf man erst, wenn man erwachsen ist. Und wer nuckelt, der ist noch ein Baby (einsetzender Singsang:) ein Baby, ein Baby, ein Baby." So plaudernd, erobern Mütter und Väter wichtiges Terrain im Bewusstsein ihres Schutzbefohlenen und werben indirekt für den Besuch eines gewissen Baumes.
In einem Land, in dem der Staat gewährleistet, dass mehrere Monate alte Babys in die Krippe kommen, damit die Mutter weiter arbeiten oder studieren kann, in dem Wickelräume allenthalben verfügbar sind, in dem Parks sommers vor werdenden Müttern nur so strotzen und eine schwangere Tänzerin beim Kopenhagener Karneval nicht belächelt wird, zumindest nicht mitleidig, ― in so einem Land macht es kaum wunder, dass die Schnullerabgewöhnung institutionalisiert wurde und nicht privat daheim vor sich geht: Der Schnullerbaum im Frederiksberg-Park in Kopenhagen hängt voll mit Bekenntnistexten wie dem eingangs wiedergegebenen, die Eltern für ihre Kinder verfassen, um dann feierlich gemeinsam mit ihrem Kleinkind den Nuckel in einen der Zweige zu hängen und das orale Befriedigungsinstrument der Verrottung preiszugeben.
Bleibt noch die zweite Möglichkeit des Nuckelns. Pädagoge Paul Suer hält eine andauernde Daumenlutschung für nicht angewöhnenswert. Als Gründe nennt er die Gefahr schiefer Zähne und eine mögliche "starke[n] Gewöhnung, die manchmal nur schwer abzubauen ist". Mein Daumen hat seit Jahren nur selten den Weg in meinen Mund zurückgefunden, und wenn, dann nur, um hastig die Blutung von Küchenmesserschnittwunden zu bremsen. Meine Zähne sind schief, doch das ist die Schuld einer Betondecke in meinem Heimatort und ihrer schwungvollen Karambolage mit meinem Kinn zur Zeit der deuschen Wende. Anders als der Daumen begünstigen Schnuller aus Latex oder Silikon das Wachstum von Kinderkiefern, merkt Suer an. ― Und sie können später in einem Ritual an besagten Baum gehängt oder anderweitig weggeschafft werden.
Die Kommune Frederiksberg fragt provokativ auf ihrer Internetseite: Gibt es einen Suttetræ in Frederiksberg? Und antwortet sich selbst und ihren Lesern, dass es einen gebe, und zwar im Park. Auf einer speziellen Miniaturausgabe der Parklandkarte ist zu sehen, wo.
Es gibt Anzeichen dafür, dass es in Dänemark mehr als diesen einen Hauptstadtschnullerbaum gibt. Wikipedia Dänemark äußert sich etwa knapp zum Suttetræ (folgend eine freie Übersetzung): "Ein Schnullerbaum ist ein Baum, in den Kinder ihre Schnuller hängen, wenn sie ihnen entwachsen sind oder wenn ihre Eltern und Erzieher möchten, dass ihre Kinder sich von ihren Schnullern emanzipieren". Jüngst haben meine Kommilitonen und ich im Jægersborg Dyrehave (Wildpark) nördlich von Kopenhagen einen Schnullerbaumsprössling entdeckt: Da hängt ein Schnuller mit Namen Arthur und wartet auf seine Brüder und Schwestern.