Samstag, Februar 24, 2007

Der 24-Stunden-Report (4): 5 Uhr

Wenn mal jemand auf die Idee kommt, mich zu entführen, um Geld von meinem Staat zu erpressen, so möchte ich ihm folgende Foltermethode ans Herz legen. Ich habe sie selbst erprobt und empfand sie als höchst wirkungsvoll. Ich hätte alles gemacht, um meinem Leiden ein Ende zu setzen: einen Fastenmonat in Sachen Computer eingelegt, Untergebenen Freundlichkeit entgegengebracht, und ja, ich hätte Geld an wohltätige Organisationen gespendet. Nur: Da waren keine Folterer, mit denen ich verhandeln konnte. Ich war völlig allein.
Nie könnte ich für militärische Sonderabteilungen wie die GSG 9 oder den paralilitärischen Freundeskreis RAF arbeiten. Nicht wegen intellektueller Unzurechnungsfähigkeit oder mangelnder Kondition. Nein. Denn meine absolute Schwachstelle ist: Ich kriege schnell kalte Füße.
Potenzielle Gegner haben deshalb derzeit eine prima Chance, mich unter Druck zu setzen. Kalte Füße verpassen, das geht nämlich am besten mit Schnee, derzeit zu finden in Kopenhagen. Dafür müssen sie mich auf einer spanischen Party irgendwo im Randbezirk von Kopenhagen (Ballerup) aussetzen mit dem Auftrag, den Weg nach Hause zu finden. Ein Bus fährt um 2 Uhr nachts nicht von da, also zu Fuß durch den Schneematsch. Ich muss daher sehr lange geradeaus einer Hauptstraße folgen, unter einer Überführung durch, dann links in den Jagtvej.
Am Abend darauf sollte mir ein italienischer Kommilitone erzählen, dass er, der jahrelang in Neapel, der nicht ganz ungefährlichen und kaum mafiafreien Stadt, gelebt habe, in derselben Nacht in derselben Stadt wie ich von zwei Kriminellen angehalten worden sei, sein ganzes Geld rauszugeben.Ich fühle mich komplett sicher in den gut beleuchteten Kopenhagener Straßen und folge weiter intuitiv der inneren Landkarte. Dann komme ich um 3 Uhr am Bahnhof Nørreport an, und dann kommt kein Zug. Zumindest nicht sofort, sondern erst um 3.55 Uhr. Ich überlege hin und her, mache mich auf zum Hauptbahnhof Kopenhagen und ende an der Station "Kongens Nytorf". Von da bringt mich eine Metro wieder nach Nørreport, wo ich einsichtig warte. Um 3.57 Uhr dann der Zug zum Hauptbahnhof, an dem ich feststelle, dass der 4.07-Uhr-Zug heim nach Roskilde annulliert worden ist - wegen Eis und Schnee.
Ich selber stelle das nur vermittelt fest, weil ich die dänische Bahndurchsage nicht verstehe und einen jungen Burschen fragen muss. Er verrät mir, dass um 5 Uhr der nächste Zug geht, will von meinem Erdnüssen aber keine einzige annehmen. Ich fange an, mich durch tiefe Konzentration auf das Reklameschild mit Wechselanzeigenmechanismus in Hypnose zu versetzen, um mir so den Eindruck von Wärme zu imagonieren.
Als ich eine halbe Stunde später in der Bahnhalle staunend vor einer Glasvitrine mit einer Modelleisenbahn stehe, die nicht im Entferntesten irgendeine der Bahnstrecken Dänemarks repräsentiert (zumal deutsche Reklame auf die Modellautos in der Miniaturlandschaft gedruckt war), spreche ich den Burschen vom Bahnsteig an, der zum zweiten Mal an mir vorbeiläuft, um sich warmzuhalten. Er versteht mich nicht. Dann nimmt er die Ohrstöpsel heraus. "Yes, it's pretty cold inside here and I'm trying to keep me warm", entgegnet er, der in Kopenhagen Maschinenbau belegt, allerdings eine besondere Ausprägung der "Engineering Studies": Er besucht auch Kurse zu Anatomie und anderen Medizinthemen, um nachher auf Expertenniveau mit den Ärzten plaudern zu können, damit sie ihm sagen, welches Untersuchungs- oder Therapiegerät er ihnen bauen soll. Ich studiere Pädagogik, sage ich ihm, und dann sitzen wir im Zug im gleichen Abteil wie Francesca und Laura, die gerade aus der Diskothek Vega kommen und keine nassen Schuhe haben. Es ist 5.45 Uhr, als ich mir in meinem 13-Quadratmeter-Wohnheimzimmer die Wasser triefenden Socken von den Füße streife. Endlich wieder in Freiheit.

Donnerstag, Februar 22, 2007

Der 24-Stunden-Report (3): 3 Uhr

Ich habe zum ersten Mal auf Englisch geträumt. Alle jungen Menschen, die für mehrere Monate ins Ausland gehen, wünschen sich so eine Sprachumprogrammierung. Es kommen sogar Kanadier hier nach Dänemark, um die englische Sprache zu lernen und dann darin zu träumen. Das gilt zumindest für französischsprachige Kanadier (die nicht Kanadier genannt werden wollen, weil sie aus Québec kommen). Der einzige englisch sprechende Kanadier ist hier, weil seine Vorfahren Wikinger waren. Ich muss mich also nicht rechtferigen, wenn mich jemand fragt, warum ich für meinen verlängerten Sprachurlaub ausgerechnet diese gering bevölkerte Inselreich gewählt habe.
Von meinem englischen Traum sind mir nur vage Erinnerungen geblieben. Irgendwelchen Wesen mit gestauchten Leibern (vielleicht Menschen) in einem Supermarkt, die mich ansprechen. Gerne würde ich antworten, hab nur leider ein nicht unwesentliches Problem: Ich verstehe kein einziges Wort.
Okay, ein Wort habe ich behalten: Edge. Doch was soll ich damit anfangen? Wollen die mir sagen, dass ich mich grenzwertig verhalte? Dass ich mal lieber Geld auf die hohe Kante legen sollte?, Dänemark ist ja nicht so ganz günstig.
Vermutlich esse ich zu viel Warmes am Abend. Hier im Wohnheim gibt es regelrechte Essgelage. Alles durcheinander: spanisches Omelette mit Pasta mit Salat mit Reis mt dänischem Leitungswasser als Begleitgetränk. Davon kriegt man automatisch Alpträume, weil der Körper trotz Schlafs nicht zur Ruhe kommt, weil der Magen verdauen muss. Ob allerdings von der Güte her ein Unterschied besteht zwischen warmen und kalten Essen, weiß ich nicht. Ich gebe nur wieder, was mir zugetragen wurde.
Erst jüngst habe ich mir deutsche Hausmacherkost zubereitet. Ein ganzes Blech Pizza habe ich bislang noch nie in meinem Leben für mich alleine gehabt - in meiner WG muss ich immer was abgeben (was ich gerne tue, echt Jungs!) und die Großfamilie, der ich entstamme, ist meist so freundlich, mir als Dank für meine Mühe und gutes Benehmen ein Stück überzulassen. Ich habe drei Tage für das Blech gebraucht. Und dann hatte ich diesen Traum, obwohl die Pizza kalt war (zumindest an den zwei letzten Tagen ihres Daseins).
Als ich die Zutaten für die Pizza gekauft habe, fing mein Gehirn an, auf Englisch zu denken. Sehr einfaches Englisch: "Aha, 10 Krones. This price is usual ... Carrots for 20 Krones. That is rather unusual." Ich bin 45 Minuten im Laden herumgelaufen, und ständig das Gleiche "usual" - "unusual". Das ist ja noch ziemlich ungefährlich. Was aber mache ich, wenn mein Hirn komplett auf Englisch umschaltet? Wie im Traum. Ich verstünde meine eigenen Gedanken nicht mehr.

Samstag, Februar 17, 2007

Der 24-Stunden-Report (2): 18 Uhr

Hier in Dänemark macht die Meinung von mir Gebrauch, dass keiner der Einheimischen erkennen soll, dass ich keiner von ihnen bin. Ich spreche unbestritten kein Dänisch. Weil das so ist, werde ich, wenn ich in der Öffentlichkeit unter Fremden bin, zum Grummler.
Der Aldi Marked im Søndre Ringvej 24 in Roskilde ist wie ein deutscher Aldi-Markt mit Kassen mit Laserscannern ausgestattet. Das war vor ein paar Jahren zumindest in Deutschland ja noch anders. Die Kassierinnen (männliche Mitarbeiter habe ich da bis heute selten gesehen) verbrachten ihren kompletten Borkum-Urlaub damit, die dreistelligen Nummern für neue Artikel auswendig zu lernen und konnten sie deshalb immer sehr rasant eintippen.
Ich komme um 18.45 Uhr, eine Viertelstunde vor Ladenschluss, durch die Ladentür. Im öffentlichen Teil des Marktes ist nur eine Mitarbeiterin, die Kisten umherschiebt, außerdem ich und vier weitere Kunden. Auch bei meinen früheren Besuchen war der Markt alles andere als voll. Zuhause müssen sich die Kunden in meterlange Schlangen einreihen, und nur hin und wieder schellt die Klingel, um einem zweiten Mitarbeiter zu bedeuten, er möge seine Kasse besetzen. In Roskilde scheint der Aldi sich hingegen den Eindruck von Randständigkeit bewahrt zu haben, eben anders als in Deutschland, wo die Zeiten, in denen nur Angehörige der Unterschicht und der unteren Mittelschicht (ich verwende diese Termini mal unreflektiert) ihre Lebensmittel in den Albrecht'schen Läden in kleineren Einkaufswagen als heute an den Euro-Paletten vorbeischoben, längst passé sind.
Trotzdem zahle ich im Roskilde-Aldi umgerechnet 0,66 Euro (zu Hause 35 Cent) für eine Tafel Maurinus-Schokolade mit Nuss, das gleiche wie im Netto, der nach Angaben meines dänischen Informanten zusammen mit Aldi in diesem Land die Spitzenplätze der billigen Märkte belegt. Während ich 22 weitere Artikel (siehe unten) in meinen Karton türme, träumt die Kassererin dem Feierabend entgegen und lagert ihren Kopf auf der Preisanzeigentafel.
Entgeistert blickt sie auf, als ich sie mit Hej begrüße und Waren aufs Band verfrachte. Sie scannt, ich packe ein. Wir beide schweigen. Einmal grunze ich. Dann sagt sie „Hundrede-otteogfyrre halvfjerds“ und provoziert so meinen Blick auf die Kassenanzeige. Zur Bestätigung grummle ich, als sei dies Geräusch Platzhalter für eine dänische Äußerung. Ich gebe ihr das Geld. Und nun, ganz seltsam, sagt sie „Undskyld!“ (hört sich an wie „Ennsküll“, bedeutet Entschuldigung und ein sicheres Anzeichen dafür, dass man es mit einem Dänen zu tun hat - so wie ich, als mich neulich in der Disko fragte, ob Einheimische da seien, und mir ein Mädchen nach einem Stupser dieses Wort sagte). Hat sie sich entschuldigt, weil meine Tomatenmarkdose durch den aufspringenden Kassendeckel fortgestoßen wurde? Oder wegen ihres Nickerchens, bei dem ich sie gestört hatte? Viel schwerwiegender aber: Hätte sie sich auch entschuldigt, wenn ich nicht gegrummelt, sondern munter mit ihr geplaudert hätte? Gewöhnlich bin ich doch immer zu einem Plausch aufgelegt.
PS: Hier in Dänemark bin ich nicht immer Grummler, ich bin auch Lacher. Da war eine Katze irgendwo auf dem Campus. Ich hob sie auf, drückte sie an mich, doch sie war widerwillig und so ließ ich sie nach anderthalb Minuten wieder herunter. Eine Frau in den Vierzigern, die den gleichen Weg nahm, warf mir einen heiteren dänischen Kommentar hinterher. Tja, den verstand ich natürlich nicht. Meine Bewältigungsstrategie: Ich hustete ein unechtes Lachen („Ha ha ha“). Und blieb wieder als Einer-nicht-von-hier unerkannt.

Mein Kassenzettel: DK (Euro)
Knäckebrot 4,95 (0,66)
Gouda in Scheiben (400 g) 16,95 (2,28)
Emmentaler im Stück (400 g) 19,95 (2,68)
Glas Champignons 3,95 (0,53)
Milch (0,5% Fett) 3,95 (0,53)
Milch (1,5% Fett) 4,50 (0,60)
Maurinus-Schokolade (Nuss) 4,95 (0,66)
Tunfischsalat 6,95 (0,93)
Butter 7,50 (1,01)
Orangentee 9,95 (1,34)
Tomatenkonzentrat 1,95 (0,26)
Chips (gesalzen) 5,50 (0,74)
3 Bananen 4,50 (0,60)
Clementinen 7,95 (1,07)
Nüsse (gesalzen) 5,50 (0,74)
Vollkornbrot 3,95 (0,53)
Suppengewürzpulver 7,95 (1,07)
Zitronensaft 3,95 (0,53)
Frischkäse 7,95 (1,07)
Gurke 5,95 (0,80)
Tomaten (500 g) 9,95 (1,34)
[Umrechnungskurs 1 Euro = 7,45 Dänische Kronen]

Mittwoch, Februar 07, 2007

In Gesellschaft

Ein einzigartiges Videodokument der Stunden des Tageswechsels vom 2. auf den 3. Februar hat meine neue Kommilitonin Abby zusammengestellt. Anlass war mein persönlicher Jahrestag. Was im Video nicht zu sehen ist: Ich um 4.00 Uhr, wie ich mich mühe, einen Kontaktlinsendosendeckel aus meinem Waschbecken herauszufriemeln, der seit Tagen das abfließende Abwasser am Fließen hinderte. Ebenfalls nicht zu sehen: Ich um 4.20 Uhr, wie ich glücklich triumphierend mit dem schmierigen Deckel zum Mülleimer hopse; gewiss: Das war der schönste Moment meines Geburtstages.

Montag, Februar 05, 2007

Der 24-Stunden-Report (1): 1 Uhr

Dänen hatten mir ein Ständchen gewidmet, als ich im IC nach Roskilde sitze und vor mir ein aufgeregter Trainingshosenträger im Gang hin- und herspurtet, um bei jedem Gang sich im bahneigenen Automaten einen Plastikbecher mit neuem Instantgetränk zu besorgen. Die Dänen haben also Kaffeeautomaten in ihren Zügen - meine zweite Grenzerfahrung; das kenne ich aus Deutschland nicht (was womöglich darauf zurückzuführen ist, dass ich da Autofahrer bin).
Die erste Grenzerfahrung waren die Bundespolizisten im Zug Hamburg-Dänemark, die meine in ein Küchentuch gebettete und im Koffer lagernde Flasche Scharlachberg in Ruhe ließen - ja nicht einmal danach fragten -, aber den seriösen Dänen im Anzug, der mir gegenüber saß und gewöhnlich schnarchte oder telefonierte, aufforderten, seine Plastikbox aufzumachen, weil da ausländische Devisen drin sein könnten (die Dänen wollen nun mal keinen Euro, da passen sie und die deutschen Grenzpolizisten gut auf).
Das Büffet im RIZRAZ in Kopenhagen - der Anlass meines Ausflugs in die Hauptstadt - zahlte ich in Kronen (79 davon). Meine dänischen Kommilitonen taten es mir gleich, und einige legten noch 35 Kronen drauf, fürs Bier. 35 Kronen - das sind 4,697986 Euro, und solche schiefen Summen mit derart vielen Ziffern hinterm Komma mögen der Grund dafür sein, dass die Dänen ihre Krone behalten wollen; die Europäische Zentralbank ist einfach nicht bereit, Münzen zu produzieren, deren Nennwert weit unter einem Cent (z.B. bei 0,000006) liegt. Verständlich. Und das sieht auch der nicht ganz unpatriotische Staat Dänemark ein und lässt die Eurozone mit ihrer Zentralwährung allein.
Für Königin Margrethe II. ist es kein Problem, die 35 Kronen für ihr Feierabendbier aufzubringen (35 Kronen: "Das sind ja über neun Mark", würde meine euroskeptische Tante zwischenzeitlich gewiss ausgerufen haben), auch die jungen Dänen schleudern dieses Trinkgeld locker auf den Tresen. Sie haben vorher zu Hause ordentlich vorgeglüht und genehmigen sich in Bar und Disko nur noch ein, zwei Bier. Trinkgeld im engeren, deutschen und US-amerikanischen Sinn zahlen sie dann nicht, auch nicht im Restaurant. Eine dänische Studentin erzählte mir, das würde allzu angeberisch aussehen.
Weswegen ich später im Café Retro für mein Carlsberg im Plastikbecher den Lokalpreis zahlte (wenn ich nicht irre, beginnt dort die Bier-Preisliste mit einem Flaschenbier für 24 Kronen). Als ich wieder auf der Galerie anlangte, verlangten die Dänen, mit denen ich dort war, von mir die Nennung dreier Musikinstrumente. Ich rechnete mit einem Psychotest und entschied mich für Triangel, Blockflöte und E-Gitarre. Das Ergebnis war ein Geburtstagsständchen in der Landessprache. Es ging wohl darum, dass Jörg mit dem jeweiligem Instrument Klänge produziert, weil er Geburtstag hat, vielleicht ging es auch darum, dass die Sänger des Liedes mit dem jeweiligen Instrument Klänge produzieren. Das würde erklären, warum sie in munterer Manier phantomimisch die unsichtbare Triangel schlugen und danach pusteten und schrammelten.
[Translation] As I sit in the train back to Roskilde, there was a man in sport clothes (in Germany formally called "potenzieller Hartz-IV-Empfänger", a unfair term which actually does not fit for danmark, because there is no monster word as "Hartz IV", it is a very german invention). The man bought coffee. Before he bought it, the coffee was in an automat which is in the compartment of the train. I was rather astonished: Germany is a developing country concerning coffee automats in trains.
Strangers should know, that beer is very expensive in Denmark (sometimes 35 Kronen which are a plenty of Euros). You should drink at home. Don't go to dance locals. And when you go: Don't spend any cumshaw and drink only one beer. If you are thirsty, go to the bathroom and drink water (the quality of danish tab water is quite okay).
Danish people like to play invisible instruments, when there is somebody's birtsday.
It is about 2am as my train arrives in Trekroner, one station far from Roskilde station and my place of residence.