Montag, Juni 05, 2006

Schmähwort-Reklame


Erst mit Befremden, dann immer öfter führte ich als kleiner Bub das althochdeutsche Wörtchen „geil“ im Mund, nachdem ich 1990 „Werner – Beinhart!“ geguckt hatte. Ein Jahr später erlaubte ich mir „cool“. Das kupferte ich von Bart Simpson im ZDF und vermutlich von Johnny Depp bei „21 Jump Street – Tatort Klassenzimmer“ ab. „Motherfucker“ habe ich nie gesagt – das übernahm der Herr König (25) aus Darmstadt und wählte dafür die Sendung „Hitler – eine Bilanz“. Leichtfertig hatte Moderator Guido Knopp ihn und die anderen Zuschauer zum Telefonanruf aufgefordert.

Eloquent und fast unmerklich bringt Herr König seinen Anglizismus in die Runde. Ihm lauscht Literaturkönig Marcel Reich-Ranicki, benachbart von dem Historiker Rainer Zitelmann und der Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich. Was sagt Herr König? „Ja gut, also ich. Meine Frage geht speziell an Frau Mitscherlich. Und ich wollte nur kurz vorher sagen, dass der Herr Ziehmann [sic!] ein Massafacka ist, weil er wirklich keine Ahnung hat von der Substanz, irgendwie also, so wie er rüberkommt, das ähm, also ständig die Frau Mitscherlich da anmacht und meint, von wegen, das wäre ja, sie wüsste nichts überhaupt von der Story irgend etwas...“

In der illustren Diskussionsrunde regt sich kein Protest zu dem doch sehr erfrischenden Titel eines Sohnes bei unziemlichen Handlungen mit dessen Mutter, den Herr König dem Historiker und heutigen Unternehmensberater Zitelmann im öffentlich-rechtlichen TV an den Kopf geschmettert hat.
Nur Moderator Knopp hüstelt artig: „Können Sie Ihre Frage formulieren, bitte.“ Herr König trotzig: „Ja, gut. Ich stell meine Frage. Und zwar, meine Frage ist, ob Hitler überhaupt irgendwie also. Meine Frage ist, ob Hitler das deutsche Volk nicht getäuscht hat, und ob eventuell nicht das deutsche Volk Hitler zurückgetäuscht hat, nämlich mit seiner Selbstaufgabe...“ Herr König hebt an, zu erklären, er habe die NS-Zeit nicht miterlebt und holt seine Erkenntnis zu einer Nicht-Entnazifizierung der Deutschen hervor, er habe Distanz, sei in einer Familie aufgewachsen, die gutbürgerlich...“

Da belehrt ihn der Moderator im knallblauen Sakko über die Unverträglichkeit von Livesendungen und Anrufermonologen. Herr König ist gescheitert. Was wäre passiert, wenn damals schon, in den 90ern, Moderator und Diskutanten verstanden hätten, was Herr König da soeben gesagt hat? Hätte es einen Eklat gegeben? Hätte sich seine Schimpfrede auf Herrn Zitelmann wochenlang in den Boulevardmedien herumgetrieben? Vor allem aber: Wäre „Motherfucker“ dann in diesen Tagen ein ebenso beliebtes Schmähwort wie „Dummkopf“ oder „Blödmann“?


Der Film zum Text

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