Samstag, April 28, 2007

Der 24-Stunden-Report (9): 10 Uhr

Ein eigener Tante-Emma-Laden für Kinder war immer das Größte für mich. Leere Miniaturverpackungen mit den Emblemen von Bonduelle, Käpt'n Iglo und Kellogg's drauf verkaufen und damit das große Geld machen. Gut, das Geld war nicht echt, aber das, was ich im Modellversuch mit meinem Bruder durchgespielt habe, brachte in mir die marktwirtschaftliche Gesinnung zum Brodeln. Das Leben wurde für mich zum Geschäft.

In jungen Jahren kaufte ich mir zusätzliche mütterliche Wohlgesonnenheit, indem ich die Spülmaschine ausräumte und Geschwister wickelte. Geld musste ich mir anders verdienen. Mit meinem Bruder und unserem Nachbarsjungen verkauften wir Blumen. 50 Pfennig pro Strauß aus dem Garten meiner Mutter nahmen wir von unseren Nachbarfrauen ein. Wir waren gut im Business, doch bald wollte meine Mutter keine Chrysanthemen mehr zu Verfügung stellen, und wir griffen auf Kleeblüten und Binsen zurück, bei gleichem Verkaufspreis. Wir erweiterten unsere Produktpalette um Steine, die wir an Tante Gertrud veräußerten. Mit 7 Mark 50 Totalgewinn zogen wir uns aus der Branche für Garten und Wohnen zurück.

In der zweiten Grundschulklasse hab ich Posiealbumbilder in einem Din-A-5-Heft mit mir herumgetragen. Die Heftseiten waren von der Mitte nach innen gefaltet, so dass sie die Bilder verbergen konnten. Meine Klassenkameraden tippten auf eine Seite in meiner Sammlung und kriegten das versteckte Bild. Ich wählte eine Seite in ihrem Heft und bekam ihr Bild. Natürlich schickte ich nur die miserabelsten und hässlichsten Bilder ins Rennen. Die gleiche Geschäftsidee griff ich vier Jahre später in der Orientierungsstufe auf: Eine schlechte Sammlung von Billig-Stickern durch geschicktes Tauschen veredeln. Bis heute verwahre ich meinen Schatz mit Disney- und "Glow in the Dark"-Stickern, um ihn in Zukunft einem wohlhabenden Nostalgiker zu verkaufen.

Mein Leben als Geschäftsmann hatte im Alter von fünf begonnen. Ich schnitt Fotos aus der Ostfriesen-Zeitung aus und steckte sie in die Briefkästen meiner Nachbarn. Ich wollte Postbote sein. Meine vorläufige Erfüllung fand ich allerdings als Abiturient beim Sammeln und Packen von Lebensmitteln im Bünting-Großlager in Leer. Ein Unterschied verglichen mit meiner Tätigkeit in meinem Tante-Emma war, dass Burlander, Obstgarten und Gutfried auf den Packungen stand und dass nicht an meinen Bruder, sondern an Märkte in Ostfriesland und außerhalb geliefert wurden.

Jede Tour durchs Lager begann mit einer Liste von selbstklebenden Etiketten, die ich auf die Kartons drücken musste, um jene in Rollcontainer zu stapeln. Statt mit Taschenrechner addierte ich das Gewicht der einzelnen Käselaibe im Kopf. Ich wollte den Zahlen nahe sein, was meinen Stundenlohn verringerte, der davon abhing, wie schleunig ich arbeitete.

Ich hatte damit meine Unternehmerschaft in Tradition als selbstständiger Postbote und Steinverkäufer aufgegeben, um abhängiger Lohnarbeiter zu werden. Für mich war der neue Lebenswandel okay. Denn ich wollte immer nur eins sein: Ein Professioneller. Ein richtiger Postbote, ein richtiger Steinverkäufer oder eben ein richtiger Kommissionierer (Lagerarbeiter).

Ich beklebe keine Joghurtkartons mehr, und heute blicke ich immer eifersüchtig auf die Kassiererinnen im Supermarkt, weil sie die Artikel über den Lesescanner ziehen dürfen und nicht ich. Mein Trost ist der Kundenscanner bei Marktkauf und Real, und im Letzteren habe ich unlängst die Selbstbedienungskasse gebraucht. Meine Ungeduld erwacht jedesmal, wenn ich in der Bielefelder Uni-Bibliothek bin. Ich versuche am Arbeitsprozess der Angestellten teilzuhaben, indem ich ihnen die erste Seite jedes Buches entblöße, so dass sie ihr Laserlesegeät ungehindert an den Barcode führen können. Manchmal drehen sie den Monitor in meine Richtung, um mir zu zeigen, welche Bücher ich noch zu Hause habe. Dann fühle ich mich fast wie einer von ihnen.

Das Königreich Dänemark, meine Zwischenheimat, hat viel zu viel Arbeit für seine wenigen 5,4 Millionen Untertanen. Deswegen ist das Land Vorreiter in Automatisierung: Tankstellen mit Kartenzahlung an der Zapfsäule, Anrufbeantworter und Spülmaschinen.

Trotzdem hat die Bibliothek des Roskilde Universitetscenters Angestellte. Die habe ich allerdings nie ein Buch auf ein Benutzerkonto buchen sehen. Sie verkaufen Kopierkarten, Tragetaschen und sortieren reservierte und zurückgegebene Bücher ein. Ich, ich bin es, der am Terminal seinen Studentenausweis in ein Lesegerät schiebt, um danach seine Bücher über den Barcodescanner zu schieben. Die Rückgabe funktioniert über einen Automaten, der den Strichcode auf dem Cover erkennt und das Buch frisst. Ich kann das den ganzen Tag tun — Buch scannen, in den Rückgaberoboter schieben, anderes Buch scannen, zurück damit, zur Abwechslung CD leihen, und wieder ab damit in den Schacht. Vollkommen eigenverantwortlich arbeite ich, wie damals als Postbote. Demnächst werde ich expandieren und meine Dienste den anderen Besuchern offerieren. Völlig ohne Bezahlung. Ich bin zurück, da, wo ich herkam.

4 Kommentare:

Oles wirre Welt hat gesagt…

Solche komischen Scanroboter haben wir in der Lehrbuchsammlung der Uni inzwischen auch. Seltsame Teile... und Tante Emma-Läden rocken. Da war zwar selten was frisch aber immer was persönlich. :)

Johnny3000 hat gesagt…

Gibt es nicht im Fenster eines der Häuser in der Feldstraße noch angefledderte "A & O"- und "Ihre Kette"-Aufkleber, die einen früheren Tante-Emma-Laden verraten? Die hätten man Steine verkaufen sollen, die bleiben ewig frisch und sehen immer toll aus.

Oles wirre Welt hat gesagt…

Pennings, ja. Da war ich als Kind immer. Und das winzige Bauernhaus links an der Ecke Feldstraße/Siebenbergen, wenn Du über die Autobahnbrücke gefahren bist gen Jheringsfehn, war früher auch ein A&O-Laden. Lindemanns. Mit Linden vorm Haus.

Bei Steinen ist ja nur das Problem, dass man sie so schlecht zurückbekommt, wenn man sie in Hafenbecken schmeißt.

Johnny3000 hat gesagt…

Mein Bruder und ich sind immer zu Lücht in der Georgswieke Einkaufen gegangen, auch ein "A & O"-Markt. Da gab es kein Laufband, sondern der Kassentisch (wie heißen diese Dinger eigentlich offiziell?) war aus Holz. Eis wurde zum Kühlhalten in Ostfriesen-Zeitung eingeschlagen und Kinder bekamen zum Abschied ein Bonbon ihrer Wahl geschenkt.

Steine sind immer prima als Lutschalternative, wenn man gerade mal kein Eis zur Hand hat. Vorausgesetzt, man hat sie nicht vorher allesamt im Hafen versenkt.