Vielleicht besser Öffentlicher Personennahverkehr
Prolog: Die wahren Helden kennt keiner, weil sich
niemand in der Hektik ihre Namen aufschreibt.
Ich komme mir vor wie ein hauptberuflicher Radrennfahrer, der sein Gefährt bei Beschädigung gegen ein neues austauscht und dann rasant weiterfährt. Die wenigen Unterschiede liegen darin, dass ich nicht professionell radfahre, dass meine Ersatzvehikel nicht neu sind und dass ich oft nur langsam vorankomme.
Seit Tagen ist mein Fahrrad kaputt. Der Hinterreifen hat keine Luft mehr, lässt sich nicht mehr langfristig vollpumpen. Mein erstes Austauschrad bekam ich von Klaudia. Das Rad war blau und klein und brachte mich durchaus nicht unschleunig zum Roskilde-Festival, in etwas mehr als einer halben Stunde, weil wir zeitig waren und uns nicht hetzen wollten. Sechs Kilometer ist es von der Uni zum Festivalplatz. Klaudia konnte mir das Rad am nächsten Tag nicht mehr leihen, weil sie einen Besucher erwartete, der auch zum Festival radeln wollte.
Ich fragte unseren Hausmeister Søren. Er bot mir sein altes Rad an. Es habe aber einen Platten, doch damit ließe es sich im Notfall vielleicht trotzdem fahren - eventuell nachpumpen, empfahl er mir. Ich kam bis ans Ende des Campus'. Dort hastete ich hoch zu Melanie in die Wohnung. "Krieg ich Dein Rad? Ich hab eine Verabredung beim Festival." Melanie war zögerlich, wohl auch weil sie eigentlich telefonierte. "Ja. Aber musst vorsichtig sein, aus dem Hinterreifen geht die Luft raus." Ich sollte ihr versprechen, dass ich das Rad nicht demoliere und den platten Hinterreifen nicht mehr plätte. Falls ich das täte, müsse ich das Rad reparieren. Schlüssel, rauf aufs Rad, weg.
Der Reifen war platt, ich pumpte nach und hörte, wie Luft aus dem Ventil zischte. In der Parallelstraße zum Københavnsvej, der nach Roskilde hineinführt, gibt es einen Fahrradladen in einem Keller. Ich schaffte es dahin, die Frau an der Kasse schickte mich nach hinten durch zum Fahrradmechaniker, der vermutlich ihr Sohn ist. "Do you speak Englisch. I need..." Er hielt mir ein neues Ventil hin und blickte zu seinem Kellerfenster. Da lehnte mein Leihrad. Er hatte gesehen, wie ich das kaputte Ventil aus dem Hinterrad gerissen hatte, um ihm zeigen zu können, was ich brauchte. "It's a gift", sagte er und ich umarmte ihm, sagte, ich sei noch nie so glücklich gewesen in meinem Leben, und wir tranken Tee und wurden gute Freunde. Gut, alles nach dem ersten "und" im vorangegangenen Satz ist Tagträumerei - aber so hatte ich mich in dem Moment gefühlt. Und nun weiß ich nicht einmal den Namen meines Beinahefreundes.
Ich brachte Melanies Rad in der Nacht repariert zurück. Am nächsten Tag brauchte sie es selber. Wieder Klaudia fragen. Ein Fahrrad habe sie noch, das habe aber einen Platten. Egal, besser als keins. Nachpumpen geht ja immer. Ich nahm das Rad und pumpte nach, allerdings nur anfänglich. Dann akzeptierte ich, dass ein Vorderrad besser als ein Hinterrad in der Lage ist, 30 Minuten lang ohne Luft auszukommen. Als ich nach der halben Stunde ankam, hatte ich schon Angst vor der Rückfahrt - Felge auf Pflaster macht Krach, und ich hatte keine Lust auf Kommentare von nächtlichen Fußgängern, die mir erzählen, was ich weiß: Der Reifen ist platt. Meine Furcht war unnötig, keiner behelligte mich.
Gestern habe ich mein eigenes Fahrrad geflickt. Bei Harald Nyborg im Industrivej habe ich mir einen günstigen Fahrradschlauch in 28-Zoll besorgt (knapp 20 Kronen, ungefähr 2,70 Euro), außerdem einen neuen Fahrradmantel (um die 55 Kronen, entspricht etwa 7,40 Euro). Klaudias 26-Zoll-Rad hatte mich zu dem Handwerkermarkt gebracht. Die Kette sprang neuerdings häufiger als vorher ab. Manchmal steckte sie auch einfach fest, dann musste ich mit Gewalt in die Pedale treten, so dass sie wieder absprang, aber so immerhin beweglich blieb.
Bei Harald Nyborg nehmen angehende Kunden sich im Eingang ein Klemmbrett. Dann schauen sie sich im Laden um, finden, was sie haben wollen und tragen dessen Buchstabennummernkombination auf das Formular auf dem Klemmbrett. Den Zettel reichen sie dann am Tresen neben der Kassen ein und warten, bis der Name aufgerufen wird, den sie oben aufs Formular geschrieben haben. Im Kassenbereich gucken sie sich vorher DVD-Hüllen mit alten dänischen Filmen an oder suchen sich ein Zelt für das Roskilde-Festival aus (das können sie ohne Formular kaufen). "Jörg", sagte mir ein Verkäufer, nachdem er den Waschkorb mit meinem Fahrradschlauch hervorgeholt hatte. Den Fahrradmantel holte er aus der Ecke zum Lager, in dem sein Kollege meine Bestellung zusammengesucht hatte.
Der Schlauch ist beim Aufpumpen geplatzt. Daniel half mir, und wir beide waren zu hastig, weil wir doch zum Festival wollten, und die Luftpumpe war miserabel, weil sie die Luft am Ventil vorbeischoss. Flora lieh mir ihr Rad. Es war das erste Mal, dass ich eine längere Strecke ohne Fahrradbremsen gefahren bin. Genaugenommen hat das Rad Bremsen, aber ein Druck darauf ist eher symbolisch und machte mir in seiner Wirkungslosigkeit jedesmal deutlich, dass ich schleunigst meine Gummistiefel ausfahren und auf den Asphalt pressen sollte. Die Bremsklötze am Rad sind ja auch aus Gummi, die Bremswirkung der Stiefelsohlen dürfte also ähnlich sein, wenn auch weniger kontrollierbar. Flora gab mir zwei Schlösser für das Rad mit. Eins blieb unberührt, das andere wurde komplett zusammengezwirbelt (aufgezwirbelt ist es im Bild zu sehen). Das Rad widerstand jener Attacke und wartete am Bauzaun auf mich. Mein Begleiter Xiangnan und ich drängten uns aus dem Pulikum im "Odeon" heraus - auch wenn The Brian Jonestown Massacre prima war. 3 Uhr. In der Nacht sind Bremsen weniger wichtig als tagsüber. Wieder zu Hause kochten wir Bratkortoffeln, Fischstäbchen und Penne mit gedünsteter Tomate, Gurke und Ei.
Ich habe mir einen neuen Fahrradschlauch gekauft.
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