Als "zutiefst unsozial" bezeichnet der SPD-Bundestagsabgeordnete Carsten Schneider in einem Gastbeitrag bei Spiegel Online die Idee eines allgemeinen Grundeinkommens. Die CDU diskutiert seit Monaten über ein "solidarisches Bürgergeld", und das nimmt der haushaltspolitische Sprecher der SPD-Fraktion nun zum Anlass, ganz pauschal über das Grundeinkommen/ Bürgergeld/ Existenzgeld, oder wie man es auch nennen möchte, herzuziehen.
Schneider und seine Parteikollegen versäumen mit ihrer generellen Schmähung des Grundeinkommens die Chance, der Bundesrepublik eine revolutionäre Neuerung des Wohlfahrtsstaates zu verschaffen. Wie die Revolution aussehen könnte — Pardon! —, das weiß ich auch nicht. Ich weiß aber, dass es nicht reicht, einfach platt nein zu sagen zu einer Idee, über die sich unzählige Menschen seit Jahrhunderten den Kopf zerbrochen haben.
Vor einigen Monaten hat SPD-Generalsekretär Hubertus Heil die Vokabeln "unsozial" und "leistungsfeindlich" gebraucht, um klarzumachen, dass er von einem Grundeinkommen nichts hält. Er bezog sich immerhin eindeutig auf das Konzept des Bürgergelds, das von Thüringens Ministerpräsident Dieter Althaus (CDU) ins Rennen gebracht worden war. Althaus' Vorschlag: Abschaffung der Rentenversicherung, der Arbeitslosenversicherung und der Sozialhilfe bzw. Hartz IV. Im Gegenzug für die Streichung dieser Sicherungssysteme soll es eine steuerfinanzierte Grundsicherung ohne Bedingungen geben. Erwachsene kriegen 800 Euro, Kinder 500 Euro. Wird der Bürger arbeitsunfähig oder alt, kommt auf ihn die Wucht der Eigenverantwortung zu — er muss sich selber kümmern mit dem Maß an "Bürgergeld", das ihm zugestanden wird. Immerhin eine über die "Gesundheitsprämie" finanzierte Krankenversicherung soll es noch geben. Die 200 Euro Prämie werden vom Bürgergeld abgezogen.
So ein Grundeinkommen will ich auch nicht. Denn durch ein derartiges Konzept würde die Republik sozial gesehen zum Nachtwächterstaat, der sich mit einem monatlichen Taschengeld aus seiner Fürsorgepflicht zurückzieht, die Schwachen vor den Starken zu schützen. Der Althaus-Vorschlag klingt mir zu sehr nach Milton Friedmans Schöpfung der "negativen Einkommenssteuer", die den Vermögenden die Wut der Armen vom Leib halten soll.
Doch Gastkommentator Carsten Schneider ignoriert, dass es mehr als einen Vorschlag zum Grundeinkommen gibt. Die CDU kann sich mit ihrem Entwurf gewiss nicht als exklusiver Anbieter von Konzepten für ein Grundeinkommen hervortun, genauso wenig wie es DM-Chef Götz Werner mit seiner Kampagne "Unternimm die Zukunft" könnte oder die FDP, die in in den 1990ern mit ihrer Variante des Bürgergeldes Niedriglöhne co-finanzieren wollte. Eher urig nehmen sich dagegen Vorstellungen wie die Josef Popper-Lynkeus aus, der das Grundeinkommen in Naturalien auszahlen wollte. In seiner Schrift "Die allgemeine Nährpflicht als Lösung der sozialen Frage" (1912) sieht er die Schaffung einer "Nährarmee" vor, um so jeden Bürger lebenslang mit lebenserhaltenen Gütern versorgen zu können.
Schon seit Langem gibt es zwei große Glaubensrichtungen beim Grundeinkommen. Die eine Gruppe will ein Bürgergeld, neben dem keine Sozialleistungen mehr existieren und das letztlich so gering ausfällt, dass es den Empfänger zum Arbeiten zwingt. Die andere Gruppe spricht sich für ein garantiertes Grundeinkommen aus, das auskömmlich ist, neben dem soziale Leistungen wie Kinder- und Wohngeld weiterbestehen, und das den Bürger in die Lage bringt, darüber nachzudenken, welchen Job er annehmen und welchen er ablehnen will.
Thomas Schmid und weitere Autoren sahen 1986 in dem Buch "Befreiung von falscher Arbeit" ein Ende der Vollbeschäftigung. Carsten Schneider ist anderer Meinung: "Das ist nachweislich falsch: Die Erwerbsquote in anderen europäischen Ländern ist viel höher als bei uns. Ja, die Arbeitswelt wandelt sich. Aber es gibt genug Arbeit zu tun."
Irre ich mich: Oder gibt es tatsächlich seit Jahren Millionen von Menschen in Deutschland, die nicht arbeiten gehen? Trotz des von Schneider bedauerten Fachkräftemangels. Faktisch erhalten diese Menschen jetzt schon mit dem Arbeitslosengeld II ihr Grundeinkommen und müssen dafür ihre Ersparnisse aufgeben und in manchen Fällen mühsam abbezahlte Eigenheime, die ursprünglich als Alterssicherung gedacht waren.
Ich unterstelle, dass unter diesen Millionen Menschen eine nicht kleine Zahl ist, die arbeiten will — und das auch unter den Bedingungen eines Grundeinkommens wollen würde. Denn Arbeit bringt nicht nur Geld ein, sondern stiftet auch Lebenssinn, der vielen Arbeitslosen mit jedem weiteren Monat, den sie tatenlos sein müssen, abhanden kommt.
"Tendenziell würden die Bürger ihre Arbeit zugunsten von mehr Freizeit reduzieren" sieht Carsten Schneider als Gefahr des Grundeinkommens voraus. Ich befürchte nicht, dass der Bundestagsabgeordnete nach Einführung eines Grundeinkommens umgehend sein Mandat niederlegt, um fortan im Luxus der 800, 1000 oder 1500 Euro monatlich zu schwelgen. Ich glaube auch nicht, dass Manager massenhaft ihren Job an den Nagel hängen, um ihren Lebensstandard mittels Grundeinkommen zu senken. Und ich habe keine Angst davor, dass Arbeitnehmer sich plötzlich so sicher fühlen, dass sie mit ihrem Chef über höheren Lohn und bessere Arbeitsbedingungen verhandeln oder dass sie auf die Idee kommen, sich als Unternehmer selbstständig zu machen.
Der springende Punkt beim Grundeinkommen ist doch, dass das okönomische Abstandsgebot eingehalten wird: Derjenige, der ausschließlich das Grundeinkommen bezieht, darf nicht mehr verdienen als derjenige, der zusätzlich arbeiten geht. Und das ist keineswegs "leistungsfeindlich".
Schneider greift das Argument auf, das Grundeinkommen mache "Bürger zu Transferempfängern, die das Geld überhaupt nicht benötigen". Richtig ist: Manche Vorschläge für das Grundeinkommen kalkulieren ein, dass jeder jeden Monat sein Grundeinkommen erhält — manche der Empfänger behalten es anschließend komplett, manche mit Job zahlen einen Teil durch ihre Steuern zurück und die mit hohem Verdienst zahlen sogar mehr Geld zurück als sie an Grundeinkommen erhalten haben. Das empfinde ich keineswegs als "unsozial".
Allerdings nicht nur unsozial, sondern vor allem unerklärlich wäre das Grundeinkommen nach Althaus'scher Prägung: Für Einkommen bis 1.600 Euro gilt hier ein Steuersatz von 50 Prozent, wer mehr verdient, zahlt 25 Prozent weniger Steuern, erhält aber auch 200 Euro weniger Bürgergeld. Die progressive Einkommensteuer, bei der, der mehr verdient, auch einen höheren Prozentsatz an Steuern zahlt, verschwindet. Diese Zahlenspielerei hat einen einzigen Vorteil: Sie ist so verwirrend, dass sie kaum jemanden überzeugen dürfte.
Weitaus plausibler ist ein Grundeinkommen, das für alle gleich hoch ist, das jeden Monat ausgezahlt wird — so wie auch die Miete monatlich gezahlt werden muss — und das nicht gepfändet werden kann bzw. für Pflichtzahlungen wie die Krankenkassenbeiträge draufgeht. Wer als Arbeitnehmer Geld verdient, behält sein Grundeinkommen. Er muss aber auf jeden verdienten Cent, der über dem Grundeinkommen liegt, Steuern zahlen. Der progressive Steuersatz sollte erhalten bleiben, Sozialleistungen ebenfalls. Nehmen wir an, ich erhielte jeden Monat 800 Euro Grundeinkommen und verdiene mir 400 Euro hinzu. Bei einem Steuersatz von 50 Prozent würde ich 200 Euro vom Verdienst an den Staat abführen, so dass mir insgesamt 1000 Euro blieben.
Wer ein solches Grundeinkommen bezahlen soll? Denkbar ist unter anderem eine Finanzierung durch:
- die Bürger, die mehr Steuern zahlen als sie an Grundeinkommen erhalten. Um beim 800-Euro-Beispiel zu bleiben. Wer 1600 Euro zusätzliches Einkommen hat, zahlt davon bei 50 Prozent Steuersatz die Hälfte, sprich: 800 Euro, und hat damit sein Grundeinkommen gewissermaßen zurückgezahlt. Denn ihm bleiben dann insgesamt 1600 Euro. Wer 3200 Euro zusätzliches Einkommen hat, führt davon 1600 Euro ab und hat so nicht nur sein Grundeinkommen zurückgezahlt, sondern auch ein weiteres finanziert.
- höhere Verbrauchssteuern. Götz Werner schlägt eine Finanzierung des Grundeinkommens ausschließlich durch die Mehrwertsteuer vor, zugunsten der Abschaffung aller anderen Steuern. "Vielleicht 50 Prozent" — so hoch könnte ein solcher Mehrwertsteuersatz nach Vorstellung von Werner liegen. Meiner Meinung nach ist das zu hoch, zumal Deutschland offene Grenzen hat und mit so einem Mehrwertsteuersatz ein Konsumtourismus in die Nachbarländer einsetzen dürfte.
- eine Luxussteuer als besondere Mehrwertsteuer sowie die Besteuerung von Vermögen.
- eine erweiterte Ökosteuer, die nicht nur auf Kraftstoffe wie Benzin und Diesel erhoben wird, sondern auch auf umweltschädliche Energie aus Atom- und Kohlekraftwerken. Zahlen müssten dann auch Unternehmen, deren Fabriken Treibhausgas-Emissionen in die Luft blasen. Derzeit erhalten die Firmen die durch das Kyoto-Protokoll geregelten Emissionsrechte noch vom Staat geschenkt.
Wie hoch ein Grundeinkommen sein kann, welche Finanzierungsmethoden wie stark herangezogen werden und welche Rechtfertigung es benötigt, darüber müssen die politischen Parteien verhandeln. Existenzrecht und Menschenwürde wären als Antwort auf die Frage nach dem Warum auf jeden Fall ein guter Anfang.
In der Einleitung zu Carsten Schneiders Gastkommentar (Titel: "Grundeinkommen — ein gefährlicher Traum") schreibt der verantwortliche Redakteur: Wäre es nicht wunderbar, wenn jeder Bürger vom Staat ein Grundeinkommen von 1000 Euro erhielte — egal, ob er arbeitet oder nicht? Die Idee wird bei PDS, Grünen und CDU ernsthaft diskutiert. Genau, das ist es, was ich vermisse: eine ernsthafte Diskussion — auch in der SPD.
- Jörg Heeren