Willem (1)
Ich komme gerade von der Hertz-87,9-Lesenacht. Da saß ich unter anderem im Wechsel mit Rouven Ridder und Sven Stickling am Lesetisch. Hier der erste Teil meiner Geschichte.
Es ist fünf Jahre her. Ich arbeitete in der Redaktion einer bundesweit operierenden Tageszeitung. Mein Chefredakteur hatte gerade gesteckt bekommen, dass ein Labor in Bitterfeld heimlich ein Retortenbaby hergestellt hatte. Nicht nur die Befruchtung lief im Reagenzglas ab, sondern die ganze Schwangerschaft kam ohne Mutter aus. “Damit könnte der Osten eine ganze Armee von Klon-Kriegern produzieren”, sagte mein Chef. “Das ist der Knaller, du musst dahin und die Geschichte machen.” Er warf mir den Schlüssel vom alten Firmen-BMW zu. Mit dem Oldtimer war ich erst letzte Woche zu einem getarnten Weltraumbahnhof der Marsbewohner in Greifswald gefahren. Davor hatte er mich nach Cloppenburg auf eine Farm mit fliegenden Schweinen geschickt. “Das ist ein Durchbruch in der Ernährungsforschung – ganz leichtes Fleisch”, sagte er.
Ich rief bei dem Labor an und machte einen Termin ab. “Ich möchte mir gerne ihre äh... Samenbank näher anschauen”, log ich. Ich musste ja verdeckt arbeiten, und vielleicht konnte ich später in der Kühlabteilung Fotos mit Reagenzgläsern machen, deren Inhalt sich als angehender Klonkrieger der Zukunft verkaufen ließe.
Nach zwei Stunden Fahrt stand ich im Stau. 27 Kilometer sagten sie im Verkehrsfunk. Ich nahm die nächste Ausfahrt und eine Stunde später sauste ich mit dem BMW durch eine menschleere Gegend, war zum zigten Mal durch eine düstere Waldschneise gefahren und kam nun an weiten Maisfeldern vorbei. Keine Menschenseele. Ich schaute auf mein Handy – Funkloch. Die Straße wurde holprig. Ich hatte lang kein Straßenschild mehr gesehen, und ich überlegte, ob ich zurückfahren sollte. Vielleicht sollte ich nochmal in den Verkehrsfunk reinhören. Doch im Radio rauschte es nur noch. Ich drehte am Sendesuchrädchen, als plötzlich mein Handywecker ansprang, um mich an meinen Termin zu erinnern. Zwei Sekunden später hing der BMW im Graben und ich fluchte: Es war eine schlechte Idee, Maschinengewehr-Geräusche als Handyton zu benutzen. Erst neulich stand ich deswegen vor einer Gruppe heulender Flüchtlingskinder. Jetzt hatte ich mich selbst erschrocken.
Das Auto ließ sich nicht mehr aus dem Graben manövrieren. Aber zumindest ging das Radio wieder. Ein bekloppter Musikredakteur war offenbar auf die Idee gekommen, eine Mundharmonika-Version von dem James-Last-Hit “Biscaya” zu spielen. Und jetzt lief der Refrain in einer Endlosschleife. Das musste ein mieser Lokalsender sein. Ständig knackte es in den Lautsprechern und es klang so, als stünde für die Stromversorgung ein Dieselmotor im Studio.
Ich war am Ende der Welt. Aber ich war nicht allein.
[Fortsetzung kommt]
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