Montag, März 12, 2007

Der 24-Stunden-Report (6): 21 Uhr

Was mich von Else Kling unterscheidet: Ich bin einen halben Meter größer, sie ist tot und ich bin non-fiktional. Ansonsten sind wir vollkommen identisch. Gut, abgesehen davon, dass sie bis zu ihrem Hinscheiden in Folge 1069 Parterre wohnt und ich seit Januar im ersten Stock. Damit hab die entschieden bessere Sicht.
Von meinem Fenster aus kann ich den Blick schweifen lassen über die Allee ohne Grün, aber dafür mit Stelen-Laternen, die stehen, wo sonst die Bäume stünden, von da aus zum stetig qualmenden Schlot der Fabrik, von der keiner weiß, was sie verfeuert, bis zur Baustelle vor meinem Haus.
Else hat ja immer eher eine Innensicht gehabt. Die wartete immer in der Nähe ihrer Wohnungstür, und wenn Mutter Beimer oder der Herr Schildknecht mit Einkäufen beladen heimkehrten, schnellte sie hervor, um in Erfahrung zu bringen oder zu verbreiten, was mit Beate Flöter geschah.
Das hab' ich auch versucht. Am Eingang verstecken und hervorschnellen. Aber keiner kannte Beate Flöter. So drückte ich mich wieder an meine pivate Panorama-Fensterscheibe. Heute sah ich einen Jungen und ein Mädchen unter Bäumen umherhüpfen und sich nach Dingen bücken. Als ich später überprüft hab, was da lag, waren nur noch Tannenzapfen da, die nicht von Tannen stammen, aber den Eindruck erweckten.
Ich hab meinen Schreibtisch so vors Fenster gestellt, dass ich stets protokollieren kann, wann meine Wohnheimmitbewohner zum Einkaufen/ Uni/ Tête à Tête gehen und wann sie wiederkommen. Ich will jetzt hier keine Namen nennen, aber ein Kommilitone aus Fernost und eine Studentin aus dem nordöstlichen Skandinavien liefern sich ein ziemliches Kopf-am-Kopf-Rennen, wenn es um die Häufigkeit der Präsenz vor meinem Beobachtungsposten geht.
Zwei Wochen habe ich einem Volvo gewidmet, der auf dem Parkplatz, der in die Allee vor meinem Fenster integriert ist, umherfuhr, hielt und wieder weiterfuhr. Ich hab das nie verstanden. Als ich nachts bei einem Spaziergang den Volvo alleine auf dem Parkplatz traf und in sein Inneres spähen wollte, fuhr der Wagen abrupt an und schüttelte das Paar auf den Vordersitzen aus seiner wohligen Umschlungenheit - ich kann allerdings nicht abschließend sagen, inwieweit es sich um ein Paar und Umschlungenheit handelte, ich hab ja nichts gesehen.
Surren holte mich am Sonntagmittag aus dem Schlaf. Rabauken im heiratsfähigen Alter ließen ihre funkgesteuerten Modellautos über die Allee sausen. Am liebsten hätte ich mein Fenster aufgerissen und gebölkt: "Ruhe da unten, sonst ruf ich die Polizei". Doch mein Fenster hat keine Öffnungsvorrichtung, und ich weiß nicht, was Ruhe, unten, sonst und rufen auf Dänisch heißt.
Else Kling hatte sich ihr Umfeld eindeutig geschickter ausgesucht. Die konnte ihre Sprachkompetenz da wesentlich besser einbringen. Und wenn der Tag vorbei war, erzählte sie ihrem geliebten Mann das Neueste. Bis Folge 656.
Jetzt ist Abend, und ich seh nur noch die Stelen leuchten und hin und wieder Frontscheinwerfer. Gerade war der Volvo wieder da. Danke, lieber Leser, dass Du heute mein Egon warst.

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