Mittwoch, März 07, 2007

Wenn die Hure das Ende ist

Plötzliche Eingebungen können zuweilen ganz schön nach hinten losgehen. Als inmitten der Schaulustigen, die hingebungsvoll den angeblich in ultramoderne Textilien gehüllten Monarchen anstarren, ein kleiner Junge spontan schreit: "Aber der hat ja gar nichts an!" und damit den ersten und einzigen kaiserlichen Flitzer und zwei betrügerische Bekleidungsfabrikanten entlarvt, da hat der Sechsjährige (vermutetes Alter) wohl einen Augenblick vollkommen vergessen, dass der Kaiser mal ganz fix seinen Vater köpfen lassen könnte wegen Vernachlässigung der Aufsichtspflicht, mangelnder Treue zum Souverän und falscher Ideologie. Zugegeben: Nachdem der Kleine dem bekloppten Volk klargemacht hat, dass der Kaiser kein hautfarbenes Catsuit spazierentrug - wäre ja möglich gewesen, das Ganze spielte sich ja anscheinend im liberalen Dänemark ab -, da zogen die anderen nach. Aber hätte ja auch anders kommen können, und dann hätte die minderjährige Plaudertasche ihre Einschulung gegen das Aufnahmeritual im kaiserlichen Steinbruch tauschen können. Das waren schließlich noch andere Zeiten damals.
Wir wissen nicht, was aus dem kindlichen Aufklärer geworden ist. Wäre er heute am Leben und sechs, hätte sein Vater den vorlauten Bengel bestimmt auf eine Privatschule geschickt.
Der Zufall hätte gewiss gewollt, dass es die Rudersdal Lilleskole in Holte nahe Kopenhagen gewesen wäre. 1987 gegründet, in ein früheres Privathaus von 1901 gepfercht, das aber schon mal, seit den 60ern, eine Lehranstalt beherbergt hat, will die Schule einen anderen Weg als ihre staatlichen Schwestern gehen. Früher hätte man gesagt, die Rudersdal Lilleskole sei sozialistisch (was gut zu dem sechsjährigen Kaiserfeind passen würde), heute ist sie schlicht alternativ, und die Lehrer erzählen Besuchern, dass man aufsässige Schüler als Problem, aber eben auch als Herausforderung sehen könne. Unterschiede zu herkömmlichen Schulen? Kleinere Klassen mit höchstens 18 Schülern. Die zulässige Gesamthöchstzahl von Schülern liegt in der Lilleskol bei 100, tatsächlich sind derzeit 35 weniger angemeldet. Schüler und Lehrer gehen kollegial miteinander um, weil Hierarchien flach gehalten oder gar abgeschafft werden sollen. Die natürliche und städtische Umgebung steht auf dem Lehrprogramm. Wenn die Kinder was über Eichen und Buchen lernen sollen, gehen sie dafür nach draußen oder sie machen mehrtägige Fahrten nach Norwegen, wenn es um Ethik geht. Wenn's den Unterricht nicht stört, legen die Schüler schon mal die Füße auf den Tisch (und ziehen vorher brav die Schuhe aus) und mampfen ihr Pausenbrot. Manche Themen erarbeiten die Kids fächerübergreifend in Projektarbeit.
Für eins meiner Pädagogikseminare war die Schule Abschauungsprojekt, um eine Idee von Reformpädagogik zu bekommen, über die Summerhill-School, Freinets Ideen und den Jena-Plan zu reden und uns zu fragen, wie die Rudersdal Lilleskole dazwischen passt. Abschlussspiel war eine Schatzkarte, die wir selber machen sollten, indem wir auf einem Blatt Papier unseren Startpunkt des Tages (in den meisten Fällen war das der Bahnhof), die eindrücklichsten Erlebnisse und das Ziel skizzierten. Am Ende der Karte meiner Dreiergruppe stand Ende, weil die dänische Zeichnerin mir kurz zuvor verraten hatte, dass sie Deutsch als Schulfach hatte."Und was heißt das auf Dänisch?", sagte ich. "Slut", sagte sie, genauso wie sie's dann unter das Ende schrieb. Das sei ja das gleiche Wort wie Slut auf Englisch, klärte ich auf. Das Lachen meiner beiden Sitznachbarinnen klang so, als wenn sich jemand vor Überraschung übergeben muss, und ich ahnte, dass ich soeben mehr gesagt hatte als den Namen einer Rockband aus Bayern.
Am Abend zeigte mir mein Computerbildschirm, dass liederliches Frauenzimmer die harmloseste Übersetzung für das gesuchte Wort ist. Ich fühlte mich, als sei ich der sechsjährige Volksaufhetzer, in dem Moment, in dem der Stuhl unter den Füßen seines Vaters weggetreten wird.
Nebenbei frage ich mich, ob der Sechsjährige und sein Vater vielleicht gar keine originären Volksangehörigen, sondern frisch eingewandert waren und dann die Einbürgerungskurse verpasst hatten? So ohne Sprachkurs..., da kann man sich schon mal verplappern. Und ich frage mich: Wie hat Hans Christian Andersen kenntlich gemacht, dass sein Märchen vorbei ist?

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