Der 24-Stunden-Report (7): 12 Uhr
Es ist kurz nach Mittag, und ich vergesse meinen Mantel im Seminarraum im Institut for Psykologi og Uddannelsesforskning. Ständig vergesse ich Sachen. Oder ich meine, sie vergessen zu haben. So wie meine Zimmerschlüssel, die ich verloren glaubte, als ich meine erste Salsa-Kursstunde hinter mir hatte. Innerlich wurde ich sehr panisch, äußerlich sehr hektisch, und das nur, weil sich das Schlüsselanhängerband um meinen gesuchten Gegenstand gewickelt hatte und der deswegen in der Innentasche meiner Kordjacke nicht mehr klimperte. Aber irgendwie schweißt es immer auch zusammen, wenn einer in Not ist und andere ihm helfen müssen, sprich: Meine Beziehung zu meinen Tanzlehrerpaar hat darunter nicht gelitten.
Den Schlüssel habe ich seitdem ein ums andere Mal wieder verloren zu haben geglaubt, bis ich mir einen Karabinerhaken gekauft habe, den ich zwar nie an meinen Hosenbund klippe, der jedoch vielleicht wegen seiner Unförmigkeit gewährleistet, dass ich meinen Schlüsselbund in Taschen und Rucksäcken ertasten kann, bevor ich mir seinen Verlust einbilde.
Ich bin mittlerweile ziemlich gut im Rekonstruieren kürzlich ausgeführter Handlungen. Wo bin ich hingegangen? Hab ich da mobil telefoniert? Wo hab ich das letzte Mal in bar bezahlt? Mein Handy finde ich jeden zweiten Tag in dem schmalen Fach vorne an meiner Umhängetasche wieder. Meine Portemonnaie habe ich schon zweimal im Fach auf der Rückseite der Tasche entdeckt.
Eine Kardinalfrage beim Rekonstruieren ist: Habe ich meine Zimmertür abgeschlossen? Jedesmal, wenn sich mir diese Frage aufwirft, muss an die Frau aus Stephen Kings "Needful Things" denken, die bei einer Art Repräsentant der Hölle ein Amulett gegen ihre Athritis kauft und damit nicht nur ihr Gebrechen, sondern gleich auch ihre Seele los wird und die spezielle Fähigkeit erwirbt, nicht mehr aus dem Haus gehen zu können. Denn immer, wenn sie das versucht, fragt sie Sachen wie: "Polly, hab ich die Herdplatte angelassen?" (Ist ein Selbstgespräch - sie heißt Polly Chalmers), "Läuft das Wasser noch?" und wo sie gerade an Wasser denkt: "Hat der Goldfisch noch genug davon?" Und dann die Schlüsselfrage, die ich mir auch immer stelle: "Abgeschlossen?! Ich geh mal besser und guck noch mal nach." Wenn ich ein Auto geparkt habe, laufe ich ein-, zwei-, dreimal darum herum, um die Verriegelung zu überprüfen. Hin und wieder vergesse ich das.
Ich habe meinen Schlüssel neulich im Kühlschrank gefunden. Kurz davor war ich wieder panisch, bis mir ins Bewusstsein schoss, dass ich meinem kanadischen Kommilitonen meinen Schlüsselbund gegeben hatte, damit er an mein Notebook konnte. Der Kühlschrank ist unser Geheimübergabefach. Ich bin schon suchend im Schnee herumgestolpert, während der Schlüssel für mich gut geschützt parat lag.
Allerdings: So ganz dramatisch wäre es nicht, wenn ich meinen Schlüssel verlöre. Ich hab neulich gehört, dass es um den Dreh 900 Kronen (120 Euro) sind, die ich an Strafzahlung zu entrichten hätte, um einen neuen Schlüssel zu kriegen. Das ist bei Sicherheitsschlössern, wie sie mein Wohnheim hat, nicht viel. Als in der Uni Bielefeld der Generalschlüssel nach einem Handgemenge nahe der studiengebührenentscheidenen Senatssitzung abhanden kam, waren die Kosten ungleich deftiger. Da war von 800.000 Euro für neue Schlösser die Rede. Ganz anderes Kaliber. Wenngleich die ostwestfälische Uni und mein Wohnheim zumindest optisch vergleichbar sind: gut sichtbare Versorgungsleitungen, nackte Betonwände, kurz: der zweckmäßige Baustil einer Fabrik, der zumindest in Sachen Uni noch an Denkfabrik denken lässt, ein Terminus, den ich für meine Unterkunft hingegen ausschließe: Da ist mein Gehirn nicht mal in der Lage, mir zuverlässig zu melden, wo mein Schlüssel ist.
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